Lebenswerk

Ein wenig Theorie als Einleitung...

Wie findet man Zugang zur abstrakten Malerei?


Die abstrakten Maler sind allgemein keine Freunde des gewöhnlichen begrifflichen Denkens. Sie haben es nicht gerne, wenn man ihren Werken so begegnet, wie man sonst anderen Objekten der Wirklichkeit zu begegnen pflegt. Die allererste Frage, die sich ein Mensch normalerweise stellt, wenn er einem ihm bisher unbekannten Gegenstand zum ersten Mal gegenüber steht, ist:

 

WAS IST DAS?

Wassily Kandinsky, Komposition V, 1911

Hierbei erwartet er sich als Antwort eine vernünftige Erklärung, wie er diesen Gegenstand in seine bekannte Welt einzuordnen habe. Genau das aber wollen die abstrakten Maler vermeiden! Ihr Ziel ist nicht, die bereits bekannte Welt darzustellen oder zu dekorieren, sondern sie möchten auf andere Welten hindeuten, denen gegenüber man sich nicht so positionieren kann, wie man es gegenüber eines Gegenstandes tut. Es mag der jeweilige Künstler hierbei verschiedene Vorstellungen von jener Welt haben, die er darstellt. Für den einen ist es eine metaphysische Geisteswelt, für den anderen eine innere seelische Welt, ein dritter mag weder das eine noch das andere akzeptieren wollen und spricht vielleicht von einer objektiven Welt aus Formen und Farben, die sich nur auf ihre eigenen Gesetze gründe.


Der abstrakte Künstler verlangt allgemein, dass der Zuschauer seine Werke auf sich wirken lasse, ohne über sie nachzudenken. Er verlangt also einen kontemplativen Zustand beim Betrachter. Nur so, meint er, könne das Werk unverfälscht zum Betrachter sprechen. Er gelangt zu dieser Meinung, weil er selbst nur aus einem solchen kontemplativen Zustand heraus in die Lage kommen kann, ein abstraktes Kunstwerk zu schaffen. Sein Wunsch ist also, der Betrachter möge sich in einen ähnlichen Zustand versetzen, wie der Künstler während der Erschaffung seines Werkes. Nur so, glaubt er, könne das Kunstwerk vermitteln, was der Künstler aus jener Welt, die er darstellen will, empor geholt habe. Ginge man hingegen mit der gewöhnlichen Begrifflichkeit auf eine abstraktes Kunstwerk los, würde man sich damit alle Tore zum wahren Kunsterlebnis verschließen. Es ist beim abstrakten Künstler oft ein gewisser agnostischer Mystizismus vorhanden, also eine Ahnung, in bisher unbekannte Bereiche des menschlichen Erlebens einzudringen, deren Wirklichkeit er sich nicht anders zum Bewusstsein bringen kann als eben durch seine Kunst. Der abstrakte Maler versucht, das Unsagbare darzustellen, und liebt es darum auch nicht, wenn seine Kunst mit sprachlichen Mitteln analysiert wird. 


Es wäre unklug, den Ratschlägen des Künstlers in Bezug auf die Handhabung seines Kunstwerkes nicht folgen zu wollen. Er muss schließlich selbst als dessen Schöpfer am Besten wissen, wie man sich dem Wesen seines Werkes anzunähern habe. Eine psychoanalytische oder kunsthistorische Beobachtungshaltung beim Betrachter wird also sicherlich nicht hilfreich sein, um sich einem abstrakten Bild zu öffnen. Das gewöhnliche Urteilen und begriffliche Denken während der Betrachtung der abstrakten Malerei zu unterdrücken, muss zweifellos der erste Schritt zur Annäherung an diese Kunstform sein. Der Betrachter muss zunächst die Wirkung des Bildes geduldig in einem kontemplativen Zustand abwarten. Ein Nebeneffekt dieser Übung ist, dass er lernen kann, diesen kontemplativen Zustand auch in anderen Lebensbereichen anzuwenden. Es ist allgemein nicht weise, allem, was einem begegnet, sofort mit der vollen Wucht der eigenen Urteilskraft zu begegnen. Eine gewisse Zurückhaltung des Urteiles ist vorteilhaft in sehr vielen Lebensbereichen, und ganz besonders im Umgang mit anderen Menschen. Nur unter extremen, lebensbedrohenden Wettkampfbedingungen ist es wichtig, besonders schnell zu urteilen. Hingegen können unter entspannteren Verhältnissen durch das Hinauszögern des urteilenden Denkens bisher unerkannte seelische Möglichkeit erweckt werden. Letztendlich muss das begriffliche, urteilende Denken jedoch irgendwann beginnen, weil der Mensch sonst das Erlebte nicht in seine gewohnte Alltagswelt einordnen könnte. Ein dauerhaftes Unterdrücken des begrifflichen Denkens kann beim heutigen Menschen nicht als gesunder Zustand gelten. Daher ist es auch nötig, über die abstrakte Kunst nachzudenken, nachdem man sie zuerst kontemplativ erlebt hat. Würde man sich ein solches Nachdenken ganz verbieten wollen, dann könnte man sich nie ein natürliches, entspanntes Verhältnis zu abstrakten Kunst erarbeiten. Man wäre dann gezwungen, die abstrakte Kunst ganz abzulehnen oder sie, ähnlich eines religiösen Kultes, dem man sich nur im Zustand der Ekstase annähern dürfe, zu verehren. Um beide Extreme zu vermeiden, ist es nötig, die Werkzeuge des philosophischen und geisteswissenschaftlichen Denkens auch auf das Phänomen der abstrakten Malerei anzuwenden. Durch eine solche begriffliche Betrachtung wird die Wirkung der Malerei nicht etwa vermindert, da ja weiterhin angesichts des Kunstwerkes selbst die innere Stille vorherrschen sollte; es gilt hingegen genau das Gegenteil: durch die Möglichkeit, die abstrakte Malerei begrifflich in die Gesamtheit unserer Welt einordnen zu können, wird der kontemplative Zustand sogar sehr erleichtert, weil der Betrachter sich danach endlich ruhig und entspannt dem Kunstwerk gegenüberstellen kann, ohne andauernd mit dem inneren Widerstand seines gesunden Menschenverstandes kämpfen zu müssen.


Was ist gegenständliche Malerei?


Gegenständliche Malerei beschäftigt sich mit unserem alltäglichen Wirklichkeitsempfinden. Das Bewusstsein, das wir vom Aufwachen bis zum Einschlafen haben, wird erweckt durch das Sich-Gegenüberstehen von Subjekt und Objekt. Der Mensch, als Subjekt, steht Gegenständen gegenüber, die er als Objekte seiner Wahrnehmung erlebt. Die Wahrnehmung der Objekte würde sich auf reine Sinneserfahrungen beschränken, stiegen nicht in dem Subjekt, während es einem Objekt gegenübertritt, Begriffe auf, welche sich auf das beobachtete Objekt beziehen. Diese Begriffe sind alle jene Gefühle und Gedanken, welche sich auf das Objekt im Wahrnehmungsfelde beziehen. Erst durch die Begriffe wird ein Objekt zu einer menschlichen Wirklichkeit. Die Wahrnehmungen allein wären nicht mehr als zusammenhanglose Sinneseindrücke. Der Gegenstand, den der Mensch als Wirklichkeit empfindet, ist also weder ein reiner Begriff noch eine bloße Wahrnehmung, sondern eine Einheit aus Begriff und Wahrnehmung. Die gegenständliche Malerei beschäftigt sich mit der Darstellung dieser Einheit. Wäre nun diese Einheit bei jedem Menschen genau dieselbe, dann könnte gegenständliche Kunst nie mehr sein als das Festhalten eines vergänglichen Momentes innerhalb der Zeit, so wie es in der realistischen Malerei ja auch fundamental praktiziert wird. 

In der klassischen realistischen Malerei geht man naiv davon aus, dass unsere Wahrnehmung der Realität auf einem natürlichen, allgemein gültigen, Verhältnis zwischen Mensch und Umwelt basiert, und man konzentriert sich bei der Schaffung eines Kunstwerkes vor allem auf die Auswahl des Motives und die Feinheiten des Technik. Man interessiert sich dabei eher weniger für den subjektiven Aspekt des Wirklichkeitsempfindens. Das subjektive Erleben der Begriffe, die sich mit der Wahrnehmung verbinden, ist jedoch potentiell ein individuelles, und somit bei jedem Menschen verschieden, insofern er ein angehendes Individuum ist. Solange in einer Gesellschaft das natürliche und traditionsgebundene, konservative Leben vorwiegt, besteht keine Bedarf nach anderer Malerei als nach realistischer und auch religiöser Malerei (auf die religiöse Kunst werden wir später eingehen). Man lebt hierbei noch in einer kollektiven Vorstellungswelt. 


Bei traditionellem, standardisiertem Kunsthandwerk, wird darum der individuelle Faktor sogar absichtlich ganz ausgeschlossen. Man stellt die Gegenstände nicht so dar, wie man sie etwa individuell erleben könnte, sondern man folgt genauen Regeln der Darstellung, die durch die Tradition vorgegeben sind.

Desto mehr sich aber in einer menschlichen Kultur der Individualismus entwickelt, desto mehr entsteht auch der Drang, das individuelle, subjektive Erleben darzustellen und dargestellt zu sehen. Durch das Herauslösen der Individuums aus natürlichen und traditionellen Lebensverhältnissen, steigert sich auch die Fähigkeit zum individuellen Erleben der Wirklichkeit. Je individueller aber ein Einzelmensch seine Wirklichkeit erlebt, desto mehr wird er auch aus seinen ursprünglichen, sowohl natürlichen und als auch sozialen, Zusammenhängen herausgerissen. Er gerät dadurch in einen neuartigen Zustand der Einsamkeit, der zuvor so nicht möglich gewesen war. Dadurch entsteht ein starkes, und oft verzweifeltes, Bedürfnis nach Kommunikation zwischen den verschiedenen, in sich abgeschlossenen, individuellen Wirklichkeitsvorstellungen. Bei neuerer gegenständlicher Malerei ist darum der individuelle Faktor sogar besonders stark erwünscht. Die Persönlichkeit und die individuelle Ausdrucksform des Künstlers tritt viel mehr in den Vordergrund als in früheren Zeiten.

Carl Spitzweg, Der Arme Poet, 1839

Bei intensiverer Erforschung seiner individuellen Wirklichkeitsvorstellungen kann der Künstler dann seine Aufmerksamkeit mehr in die eine oder die andere Richtung jener Strömungen lenken, aus denen sich die Gegenstände, die er als Wirklichkeit erlebt, zusammensetzen. Wenn er dabei seine Aufmerksamkeit mehr auf seine eigene, subjektive Begriffswelt, also seine individuellen Gedanken und Gefühle, lenkt, die der sinnlichen Wahrnehmung entgegen strömen, dann wird diese Darstellungsart expressionistisch genannt. 

Edvard Munch, Der Schrei, 1893

Lenkt der Künstler seine Aufmerksamkeit hingegen mehr auf die Eigenarten und Besonderheiten der bloßen sinnlichen Wahrnehmung, dann drückt sich das im impressionistischen Stil aus.

Claude Monet, Garden at Giverny, 1895

Beide dieser Stilarten, die hier nur als symptomatische Beispiele erwähnt werden, erforschen den Zusammenhang zwischen Begriff und Wahrnehmung, indem sie sich mit dem natürlich gegebenen Zusammenhang nicht mehr zufrieden geben. Sie drängen beide aus dem natürlichen Gleichgewicht zwischen Begriff und Wahrnehmung heraus und verlassen darum den sicheren Boden des Realismus. In der Richtung des Expressionismus löst der Künstler sich immer mehr vom Gegenstand los und vertieft sich in seine eigene Gefühls-und Gedankenwelt.

Franz Marc, Animal in Landscape, 1914

Ebenso verlässt der Künstler den Bereich der gegenständlichen Malerei, wenn er immer weiter in Richtung Impressionismus strebt. Die Annäherung an das rein sinnliche Erlebnis, bei Zurückhaltung der ordnenden Begriffe, mündet letztendlich in eine Welt, in der sich die Gegenstände in Formen und Farben auflösen.

Van Gogh, Wheatfield with Crows, 1890

Beide Wege, sowohl durch den Expressionismus als durch den Impressionismus, führen also aus dem Bereich des gegenständlichen Erleben hinaus.

Was ist religiöse Malerei?


Während sich in jüngeren Zeiten gewisse Strömungen innerhalb der gegenständlichen Kunst, einem inneren Drang folgend, ihren Weg aus der gegenständlichen Welt hinaus bahnen, gab es seit uralten Zeiten eine genau entgegengesetzte Strömung: eine nur übersinnlich erlebbare, geistige Welt drängte hinein in die gegenständliche Welt und wollte sichtbar gemacht werden. Diese Aufgabe erfüllte der Kultus in den meisten alten Religionen. Es gab damals noch keine Trennung zwischen Kunst und Religion. Die Künste waren Mittel der Priester, um dem Volk die höheren Welten, von denen die Religionen zeugten, näher zu bringen. Die Tatsache, dass das Kunsterlebnis zwar von den Fähigkeiten des Körpers abhängt, aber doch ein rein seelisches Erlebnis ist und uns deshalb aus dem Bereich des alltäglichen, gegenständlichen Erlebens herausheben kann, machte aus der Kunst ein Tor zu einer Welt, die nicht mehr gegenständlich ist. Jene rein seelisch-geistige Welt zeichnet sich dadurch aus, dass in ihr eine gegenständliche Dualität von Subjekt und Objekt nicht vorhanden ist. Da es sich also um keine gegenständliche Wirklichkeit handelt, wie unsere physische Welt, sahen sich die Verkünder der geistigen Welt stets mit der Schwierigkeit konfrontiert, wie man übersinnlich erlebte Erfahrungen jenen Mitmenschen vermitteln könne, deren Vorstellungswelt allein an das gegenständliche Bewusstsein gebunden ist. Der meditierende Priester bildete sich also Vorstellungen von einer geistigen Welt, doch entsprachen diesen Vorstellungen keinen sinnlich leicht definierbaren Gegenstände. Der Urimpuls zum religiösen künstlerischen Schaffen lag also in Notwendigkeit verborgen, einer geistig erlebten Vorstellung ein sinnlich wahrnehmbares Objekt künstlich hinzu zu schaffen. Es sollte dadurch erreicht werden, dass der gläubige Betrachter z.B. des Bildes einer Gottheit, zu der dem Bilde zugrunde liegenden geistigen Wahrheit geleitet werde könne. Der Gebrauch von Bildern, Statuen und Symbolen im religiösen Kultus hatte die Aufgabe, bei den Anwesenden jene geistige Vorstellungen anzuregen, welche der jeweilige Kultus seinen Anhängern vermitteln wollte. Daher war alle Kunst ursprünglich ganz in den Dienst der Religion gestellt. Die sakrale Kunst war ein Vermittler zwischen dem alltäglichen Wahrnehmen und einem höheren geistigen Erleben.

Einen Ausnahmefall bildet hierbei die griechische und die römische Kunst. Hier fielen gegenständliche und religiöse Darstellung extrem stark zusammen, weil man in jenen antiken humanistischen Kulturen nichts höher schätzte als den menschlichen Leib. Die Darstellung des menschliche Leibes war somit zugleich auch Ausdruck des religiösen Lebens. Die Götter wurden in menschlicher Form dargestellt. Es kam dadurch zu einer beindruckenden Blüte aller gegenständlichen Kunst, die sich nicht nur auf religiöse Motive reduzierte. Allgemein galt, im Gegensatz zu noch älteren Kulturen, eine hohe Wertschätzung der gegenständlich erlebten Wirklichkeit. Am einem Jenseits war man in jener einzigartigen Kulturperiode wenig interessiert. 

Das änderte sich dann wieder in dem darauf folgenden, von der katholischen Kirche dominierten, sogenannten Mittelalter in Europa und in dem parallel existierenden byzantinischen Reich. Obwohl Christus als Mensch im Fleische erschienen war, verlegte man im christlichen Kulturraum die gesamte religiöse Vorstellungswelt wieder in ein übersinnliches Jenseits. Diesen Umstand zu hinterfragen, würde hier zu weit führen; auf jeden Fall wurde dadurch für viele Jahrhunderte lang die Malerei wieder ganz von der Religion absorbiert. Realistische Darstellungsformen von Mensch und Natur gerieten in den Hintergrund, die Darstellung religiöser Motive war die zentrale Aufgabe der Maler, wobei sie sich nach konservativen Regeln und Traditionen richten mussten. 

Was ist abstrakte Malerei?


Zusammen mit dem aufkommenden Materialismus im 15. Jahrhundert, begann auch eine langsame Loslösung der Kunst von der Religion. Als erstes wurden dabei die alten Kunstformen der Antike wieder neu entdeckt.  


Die Renaissance galt als ein Wiederaufleben des antiken Humanismus. Dabei hielt man sich zwar gerne an die Vorbilder der Antike, aber es entstanden auch ganz neue Stilarten im Bereich der gegenständlichen Malerei. Man entdeckte die Perspektive und andere neue Formen von Realismus.

Michelangelo, David, 1501-1504

Raphael, School of Athens, 1509-1511

Jan van Eyk, Arnolfini Portrait, 1434

Bis zur abstrakten Malerei war es allerdings noch ein sehr langer Weg. Die allgemeine Vorstellungswelt war noch für lange Zeit entweder durch die Natur, den menschlichen Körper oder durch die Religion bestimmt. Erst im 19. Jahrhundert, in der Hochzeit des Materialismus, konnte der bereits beschriebene Prozess beginnen, der sich dann in Expressionismus und Impressionismus äußerte. Dazu musste sich während der vorhergehenden Jahrhunderte zuerst das Vorstellungsleben der Menschen unter dem Einfluss der Philosophie und der Naturwissenschaft grundlegend verändern. Religiöse Gedanken und Gefühle waren durch materialistisch und atheistisch gefärbte Vorstellungen weitreichend verdrängt worden. Das Geistesleben, das früher seine Vorstellungen aus dem religiösen Leben und einer stets noch geistig orientierten Philosophie gezogen hatte, war Schritt für Schritt einem naturwissenschaftlich orientierten Verstandesleben gewichen. Auch der deutsche Idealismus war tief in viele Seelen der Gebildeten eingedrungen. Was sich zuerst in Philosophie und Naturwissenschaft ausgelebt hatte, zeigte jetzt seine Wirkung auch in den Künsten. Es war allgemein ein Freiraum geschaffen worden, in dem der Mensch sich seine eigenen, erden-menschlichen Vorstellungen bilden konnte, ohne von religiösen Autoritäten und geistigen Traditionen daran gehindert zu werden. Ganz nach dem Vorbild der Philosophen, suchten jetzt auch die Maler in erkenntnistheoretischer Manier nach den Fundamenten der Malerei. Die Maler entdeckten dabei auf ihre eigene, visuell orientierte Weise, dass die Wirklichkeit nicht etwa fertig vor unseren Augen liegt, und wir sie nur abzubilden haben, sondern dass unsere Gefühle und Gedanken, die wir einem Gegenstand entgegenbringen, untrennbar mit dem sinnlich wahrgenommenen Gegenstand selbst verbunden sind. Die Maler entdeckten, dass es eine vermeintlich objektive, also vom Menschen unabhängige Wirklichkeit, gar nicht gibt. Und indem sie solchen erkenntnistheoretischen Fragen nachgingen, drangen sie immer tiefer und tiefer in ihre eigene Gedanken-und Gefühlswelt ein, und sie gerieten dabei, mehr unbewusst als bewusst, in geistige Erfahrungsbereiche, wo sich aus rein geistigen Ideen bildliche Vorstellungen formen. Man könnte hierbei durchaus von schöpferischen, qualitativ höheren, Erfahrungswelten sprechen, als es die gewöhnliche Sinnenwelt ist. In früheren Zeiten, als man noch gläubig war, hätte ein Künstler darum in einem solchen Zustand vielleicht eine Vision der Madonna gehabt, was ihn dann zu einer besseren bildlichen Darstellung der Mutter Gottes befähigt hätte. Man hätte dann von einem begnadeten, inspirierten Künstler gesprochen. Innerhalb unserer materiell gefärbten Kultur stößt der Künstler hier aber inzwischen statt auf die Madonna auf all jene abstrakten Ideen, welche die Menschheit auf der Basis des Materialismus entwickelt hat. Was die Menschen sich an abstrakten Theorien ausdenken, hat zwar, zum Glück, keine göttliche Schöpferkraft in der natürlichen Welt, aber es hat durchaus die Kraft, um gewisse Vorstellungsbilder im menschlichen Unterbewusstsein zu erzeugen. In der künstlerischen Phantasiewelt also, wo sich Ideen in Bilder verwandeln, sind darum heutzutage auch alle jene Ideen vorhanden, welche rein artifizielle Produkte des menschlichen, theoretischen Denkens sind. Und ebenso sind dort alle jene Gefühle aufzufinden, welche sich gleichzeitig unter dem Einfluss eines solchen wirklichkeitsfremden Denkens entwickelt haben. Selbst die Fähigkeit, Symbole zu schaffen, ist vom materialistischen, abstrakten Denken erfasst worden. Alles, was früher im Dienste eines höheren geistigen Erlebens gestanden hatte, ist seit dem 15.Jahrhundert immer mehr von einer den heiligen Geist verleugnenden Denkweise instrumentalisiert worden. Dieser Vorgang war unvermeidbar auf dem Weg, der in Richtung menschliche Freiheit und menschliche Selbsterkenntnis führt. Die fundamentale Freiheit des menschlichen geistigen Schaffens entdeckten also die modernen Künstler, jedoch zunächst nur unter dem alles dominierendem Einfluss des Materialismus. Was die modernen Künstler ausdrücken, ist also durchaus eine seelische Innenwelt, die allen Menschen gemeinsam ist, welche im Sinne einer naturwissenschaftlichen, materialistischen Kultur erzogen worden sind. Die von der Religion befreiten Künstler begannen nun, jene Ideen, die unser abstraktes Denken über die Jahrhunderte hinweg herangebildet hatte, bildlich darzustellen. Dabei ist es ihnen stets besonders wichtig, alles Gegenständliche aus ihren Darstellungen herauszuhalten, weil durch das Gegenständliche ja die göttlich zwingende und darum in gewisser Hinsicht unfrei machende Natur wieder in das schöpferische Wirken hinein geholt werden würde.


Die abstrakten Künstler sind demnach Sichtbarmacher von menschlichen Gedanken und Gefühlen, jedoch nicht von jenen Gedanken und Gefühlen, die der Mensch entwickelt, wenn er sich der Natur oder anderen äußeren Objekten gegenüberstellt, sondern von abstrakten Gedanken und von Gefühlen, die sich auf abstrakte Vorstellungen beziehen. Man könnte also sagen, dass die Maler den gesamten geistigen Prozess, den die Philosophie und Naturwissenschaft seit dem antiken Griechenland rein gedanklich durchgemacht hat, noch einmal, visuell unterstützt, wiederholen. Dabei entdeckten sie, ebenso wie die Philosophen und Mathematiker, unter anderem die Notwendigkeit, mit möglichst einfachen Begriffen zu arbeiten. Indem sich die Künstler durch die menschliche Phantasiewelt hindurcharbeiten, geraten sie in Bereiche immer noch abstrakterer Vorstellungen.

Wassily Kandinsky, Composition VIII, 1923

Bis zu diesem Punkt hin könnte man die abstrakte Kunst noch als eine Fortsetzung des Expressionismus bezeichnen. Wenn sich aber auch die letzten natürlichen und geometrischen Formen verflüchtigt haben, dann steht der expressionistische Künstler irgendwann nur noch vor einer ungeordneten Elementarwelt aus Farben und Formen.

Jackson Pollock, No.1,1949

Und es könnte ihm dann bewusst werden, dass die Malerei sich dieser Elementarwelt bereits aus einer anderen Richtung angenähert hatte, nämlich als sie in der genau gegensätzlichen Richtung, der des Impressionismus, gestrebt hatte. In jener impressionistischen Richtung war damals die Kunst, mit einem Van Gogh allerdings an eine Grenze angelangt. Hätte Van Gogh die Erforschung des bloßen Sinneseindruckes noch weiter ins Extrem getrieben, dann wäre auch er in einer reinen Welt von Farben und Formen angelangt. Von seinem Standpunkt aus hätte dies jedoch keinen Sinn ergeben, weil es ihm ja um das Erleben der natürlichen Wirklichkeit ging, und eine Natur ganz ohne Gegenstände wäre nichts als ein sinnloses Chaos gewesen. Van Gogh konnte und wollte die ordnende Begriffswelt also nicht ganz ausschalten. Es musste bei ihm doch immer noch ein gewisser Realismus erhalten bleiben, weil er den Sinn seiner Malerei letztendlich in der Naturbetrachtung suchte.

Vincent Van Gogh, The Starry Night, 1889

Die expressionistischen, abstrakten Maler erreichen diesen Zustand aufgelöster, zusammenhangloser Farben und Formen aber von einer ganz anderen Seite her! Sie wollen den Sinn ihrer Malerei gar nicht darin sehen, dass ihr Kunstwerk irgendeine äußere gegenständliche Wirklichkeit darstelle. Sie haben sich ja bewusst darin geübt, Farben und Formen gemäß ihrer eigenen, abstrakten Vorstellungen zusammen zu fügen, ohne auf die äußere Natur Rücksicht zu nehmen. Eine weitere Entwicklung der abstrakten Kunst besteht also dann in dieser Richtung darin, jene Gesetze zu erforschen, nach denen sich Farben und Formen, nur aus den ihnen selbst innewohnenden Kräften heraus, zusammenfügen lassen. 


Die abstrakten Künstler werden durch all diese Anstrengungen zu sehr guten Kennern der den Farben und Formen innewohnenden Kräfte. Sie entwickeln ein sehr starkes Feingefühl für visuelle Zusammenhänge, das sich auf nichts Äußeres mehr stützen muss. Aufgrund dieser gesteigerten Sensibilität gelingt es ihnen allmählich immer besser, ihre intimsten Vorstellungen und Gefühle sichtbar zu machen.

Hans Hartung, 1973

Der Zweck der abstrakten Malerei liegt also darin, dass die besondere, sowohl intellektuelle als emotionale, menschliche Innenwelt, die sich nur unter dem Einfluss unserer modernen, materialistisch orientierten Welt heranbilden konnte, hier eine Möglichkeit bekommt, sichtbar werden. Die abstrakte Kunst ist somit eine Ausdrucksform des typischen Menschenwesens unseres Zeitalters, mit seinem verzweifelten Drang, sich als eigenständiges geistiges Wesen in einem Universum zu etablieren, das es nicht verstehen kann.

Leben und Werk des Malers Gerald-Maria Stecker

Der Augsburger Künstler Gerald-Maria Stecker (1945-2018) bezeichnete sich gerne als Gottsucher, Sichtbarmacher und Zauberer. Er war besessen von seiner Kunst und von seinen künstlerischen Zielen, die er sich selbst setzte, ohne viel Rücksicht auf die Kunstgeschichte und auf seine künstlerischen Zeitgenossen. Obwohl man viele seiner Werke schon gewissen bekannten Stilrichtungen zuordnen kann, folgte er seinem ganz eigenen Weg. Schon als ganz junger Mann zeigte er ein außerordentliches malerisches Talent. Er hatte eine angeborene Sicherheit im zeichnerischen und malerischen Ausdruck, den sich viele andere erst mühsam erarbeiten müssen. Kein Wunder also, dass er sich schon mit 18 Jahren mutig als Künstler der Welt präsentierte. Es gab für ihn nie einen Zweifel, dass er hauptberuflicher Künstler sein wolle. Obwohl er auch in anderen Bereichen wie der Architektur und der Werbung tätig und erfolgreich war, sah er die Malerei immer als seine zentrale Mission an. 


Obwohl er Atheist war, glaubte er an die Wirklichkeit des Geistes. Mit der traditionellen katholischen Kirchengläubigkeit seiner Eltern konnte er nichts anfangen, aber auch andere religiöse und geistige Strömungen, die später an ihn herantraten, konnten ihn nicht auf ihre Seite bringen. Und es waren nicht gerade wenige Vertreter solcher Strömungen, die sich für diese intensive Seele interessierten. Doch für Gerald-Maria Stecker gab es nur einen Geist, nämlich jenen, den er in der Kunst finden konnte. Dabei war er nicht nur auf die Malerei reduziert. Auch in Musik oder Literatur konnte er sich stets für das geistige Element begeistern, was für ihn immer eine Überwindung der alltäglichen Konventionen und Normen bedeutete. Persönliche Freiheit war für ihn ein zentralstes Thema. Der Ausbruch aus den gewohnten sozialen Regeln war für ihn nicht nur etwa eine einmalige Aktion, sondern etwas, dass er täglich verwirklichen musste. Was ihn dabei antrieb, war die Sehnsucht nach einer echten, formlosen Begegnung mit seinem Mitmenschen. Alle gesellschaftlichen Verhaltensregeln waren ihm zuwider, und er brach sie, wann immer sich ihm die Gelegenheit dazu bot. Er wollte lebendig sein, und das konventionelle Leben erschien ihm wie ein Gefängnis, aus dem die Menschen wie durch ein Fenster auf die ferne Wirklichkeit schauen. In allen Bereichen des Lebens ging es ihm darum, die Hindernisse zwischen sich selbst und einem authentischen Erleben der Welt aus dem Wege zu räumen. Und dasselbe verlangte er von jedem Menschen, dem er begegnete, ohne sonderlich Rücksicht auf dessen Einverständnis. Seine sturmartige Verhaltensweise war durch nichts zurückhalten. Wo immer er auftauchte, konnte man sich sicher sein, dass er nicht unbemerkt bleiben würde. 


Dieser gesamte Drang nach Authentizität, dieser manische Wille, zu den Ursprüngen des Lebens zu gelangen, drückte sich in seiner Kunst dadurch aus, dass er systematisch in Richtung Abstraktion arbeite. Die gesamte gegenständliche Wirklichkeit schien ihm etwas Vorbestimmtes, Vorgegebenes zu sein, das er vor allem als Einengung seiner individuellen Freiheit empfand. Er wollte die Urquellen der Wirklichkeit entdecken, war aber nicht geneigt, sich mit bereits bestehenden Erklärungen zufrieden zugeben. Er wollte die Urgründe der Wirklichkeit aus eigener Kraft heraus erforschen, und das oberste Werkzeug dafür schien ihm die Malerei zu sein. Malen war für ihn, wie für alle Maler, ein visuell sichtbarer Denkvorgang. Wie für die meisten modernen Maler, bestand für ihn der kreative Prozess nicht etwa darin, theoretische Gedanken, die man sonst sprachlich formuliert, mühsam in bildliche Formen zu übersetzen. Die Ideen und Gedanken ergaben sich im direkt in bildlicher Form. Er sah alle seine Bilder geistig vor sich, bevor er sie malte. Er sagte gerne, dass er ja nur sehr wenige all jener Bilder letztendlich male, die er zu sehen pflegte. Seine Bilder waren also nur das Endresultat eines langen meditativen Vorbereitungszustandes. Daher rührte auch seine Sicherheit in der Darstellungsform. Er musste nur malen, was er bereits gesehen hat. Auch in anderen Kunstbereichen, wie der Musik, zeichnen sich die schöpferischsten Künstler durch dieses Talent aus. Sogar im Bereich der Naturwissenschaft ist Inspiration nicht selten die Basis für die größten Erfindungen. Selbstverständlich muss sich zu diesen Eingebungen dann noch ein technisches Geschick gesellen, dass man sich nur durch fleißiges Üben aneignen kann.

 

Als ein Mensch, der vollwertig mitten im echten Leben drinstehen wollte, war er nicht ernsthaft interessiert an philosophischen Abstraktionen und naturwissenschaftlichen Theorien, außer um sie als nutzlos zu diskreditieren. Er verfiel darum nicht der Versuchung, so wie es die wissenschaftlichen Theoretiker gerne tun, sich mit einem großen Sprung direkt an den vermeintlichen Urgrund alles Seins versetzen zu wollen. In der Malerei entspräche ein solcher Ansatz dem Minimalismus, der sich direkt mit fundamentalen Farben und Formen beschäftigen will. Gerald Maria Stecker hingegen verstand, dass ein Mensch, der aus eigener Kraft die Welt erforschen will, nur dort beginnen kann, wo auch der Ausgangspunkt seiner Suche ist, also beim Menschen selbst. 

Phase 0 : Realismus und Surrealismus (1964-1966)


Von dem ganz jungen Gerald-M.Stecker sind uns einige wenige surrealistische Werke, einige Naturstudien, sowie ein Selbstbildnis übrig geblieben, auf denen sich bereits großes malerisches und zeichnerisches Talent ankündigte.

Phase 1 : Synthetischer Kubismus (1967)


Nach einigen surrealistischen Werken, war darum seine erste längere Schaffensphase (1) ganz auf den Menschen konzentriert, so wie er sich uns im täglichen Leben gibt. Allerdings betrachtete er diesen Menschen nicht realistisch, sondern mit dem prismatischen Blick eines Kubisten. Man kann diese erste Phase eindeutig dem Synthetischen Kubismus zuordnen. Das expressionische Element war dabei anfangs noch stark gezügelt und zeigte sich nur in den fantasievollen Hintergrundstrukturen und -farbgebungen, die rein emotional bestimmt waren, und sich aus keinem logischen Konstruktivismus ableiten lassen. Die Farbgebung und die gesamte Stimmung der Bilder können eher als impressionistisch eingeordnet werden. Es ging ihm damals um das Erzeugen eines harmonischen Gesamteindruckes.


G.-M. Stecker, Öl auf Leinwand 96cm x 60cm, 1967

Phase 2 : Kubismus (1967)


In einer zweiten Phase (2) trat sein subjektives Verhältnis zu seinen Mitmenschen schon bereits mehr hervor, was dazu führte, dass er die Menschen mir immer extrem verzerrten Körperproportionen darstellte. Hinzu macht sich in dieser Phase ein gewisser Symbolismus bemerkbar, der auf die sozialen Zusammenhänge zwischen den Menschen hindeutet. Man kann also deutlich spüren, wie das expressionistische Element sich stärker spürbar macht. Trotzdem bleibt das impressionistische Feingefühl in allen nicht anthropomorphen Bereichen der Bilder weiter erkennbar. Man diese Werke allgemein dem Kubismus zuordnen.

G.-M. Stecker, Öl auf Leinwand, 60cm x 55cm, 1968

Phase 3 : Surrealistischer Kubismus (1968-1971)


In seiner dritten längeren Schaffensphase (3) machte Gerald-Maria Stecker einen kreativen Sprung, der sich nicht direkt aus den vorigen Phasen ableiten lässt. Das einzige, was er dabei beibehielt, war der kubistische Ansatz in der Darstellung des Menschen, allerdings auf eine ganze neue Weise, die so in der Kunstgeschichte nicht als Stilrichtung vorzufinden ist, außer vielleicht in der Pop-Art. Er macht hierbei gleichzeitig einen Sprung in Richtung Minimalismus und Surrealismus. Sein subjektive Meinung über seine Mitmenschen äußert sich in einem noch deutlicheren Symbolismus als zuvor, der sich in einer Typisierung äußerte. Während er zuvor noch an dem gesamten Menschenkörper interessiert gewesen war, reduzierte er den Mensch jetzt auf stilisierte Kopfmännchen und -weibchen. Die Köpfe und Gliedmaßen treten dominant in den Vordergrund. Was auffällt, ist das Thema der Einsamkeit und der geistigen Leere. Gerald-Maria Stecker selbst sprach von sozialkritischen Bildern. Man könnte vielleicht von einem Surrealistischen Symbolismus sprechen.


G.-M- Stecker, Öl auf Leinwand 80cm x 80cm, 1970

Phase 4 : Impressionistischer Symbolismus (1972-1973)


An diese Phase schloss sich eine weiter Phase (4) an, in der er den minimalistischen Ansatz teilweise beibehielt, jedoch wieder wieder zu einer freieren Nutzung der Farben gelangte. In der Darstellung des Menschen vollzog er eine extreme Vereinfachung. Er stellte ihn jetzt wie einen Einzeller oder eine Amöbe dar. Die Form erinnert an die vorige Phase. Das Thema Einsamkeit und der Verlorenheit tritt weiterhin deutlich hervor. In den weiträumigen Bereichen zwischen den menschlichen Keimzellen, erforscht er die zwischenmenschlichen Zusammenhänge mit einem feinfühligen abstrakten Impressionismus. Ein gewisses surrealistischer Element bleibt auch hier noch erhalten. Um diese Phase von der vorigen zu unterscheiden, könnte man sie als Impressionistischen Symbolismus bezeichnen.

G.-M. Stecker, Acryl auf Leinwand, 80cm x 80cm, 1972

Phase 5 : Metaphysische Abstrakte Kunst (1974-1982)


In der darauf folgenden Phase (5), die verschiedene Stile hervorbringt, verselbstständigte sich der abstrakte Impressionismus und befreit sich ganz vom Gegenständlichen.

G.-M- Stecker, Acryl auf Leinwand, 80cm x 100cm

Dort wo der Kubismus auftritt, dient er nur der Darstellung abstrakter Zusammenhänge. Eine gewisse Tendenz zur geometrischen Symbolik zeigt sich bereits zu Beginn dieser Phase, mit dem obigen Bild, dass der Künstler als sein erstes abstraktes Bild einordnete.

G.-M- Stecker, Acryl auf Leinwand, 100cm x 125cm

Die Darstellung der physischen Form des Menschen fiel hiermit ganz weg und sollte auch nie wieder kehren. Das Interesse Gerald-Maria Steckers verlagerte sich ganz auf den Hintergrund des menschlichen Lebens und der Natur allgemein. Er wollte in den Ursprung allen Lebens eindringen. Dabei entdeckte er das Zusammenspiel von zwei konträren schöpferischen Kräften, die er Ratio und Pathos zu nennen pflegte. Ratio und Pathos waren für ihn die zwei Urkräfte, aus denen sich alles Leben entwickelt haben muss. Ratio war für ihn das originäre, schöpferische Verstandesleben, Pathos das hinter allem liegende, originäre Gefühlsleben. Er war damit malerisch eindeutig in den metaphysischen Bereich eingedrungen. Man könnte darum auch von Metaphysischer Abstrakter Kunst sprechen.


In diesem metaphysischen Vorstellungsbereich versuchte er, mit verschiedenen Ansätzen, den Zusammenhang zwischen Urgefühl und Urverstand zu erforschen. Er selbst bezeichnete die Phase als "Erkenntnistheoretische Arbeiten". In denselben Jahren verfasste er auch ein philosophische Schrift mit dem Titel "Ein Urweg des Sehens".


Ganz eindeutig erschien ihm der Pathos den Urgrund allen Seins zu bilden. Das war für ihn jener Bereich, in den Van Gogh eingedrungen wäre, wenn er seinen Impressionismus ins absolute Extrem getrieben hätte. Er vermutete hinter allem Sein eine gegenstandslose Welt, ein pulsierendes Kraftfeld, das jedoch nicht formlos ist. Die Formen jenes Kraftfeldes können jedoch nur passiv erlebt werden, und sind darum ganz in den Bereich der gefühlsmäßigen Empfindung einzuordnen. Die Darstellung jenes brodelnden Hintergrundes aller Wirklichkeit bedeutete für Gerald Maria Stecker seinen endgültigen Eintritt in die rein abstrakte Malerei. Die Erforschung jenes Bereiches sollte später seine gesamte Aufmerksamkeit einnehmen. In dieser Phase jedoch, die auch für ihn persönlich den Mittelpunkt seines Lebens darstellte, beschäftigte er sich eindringlich mit dem Zusammenhang zwischen jener Ur-Gefühlswelt, dem Pathos und dem ihr gegenüberstehenden Ur-Verstand, der Ratio. Wie einleitend erklärt worden ist, ergibt sich unsere menschliche Wirklichkeit aus der Verbindung von Begriff und Wahrnehmung. Gerald-Maria Stecker identifizierte hierbei die begriffsbildende Kraft mit dem menschlichen Verstand und erkannte als dessen Ureigenschaft das aktive Erschaffen von Formen. Gleichzeitig identifizierte er das Wahrnehmungsvermögen mit dem menschlichen Gefühl und erkannte als dessen Ureigenschaft das passive Erleiden von Eindrücken. Künstlerisch manifestierte sich dies zunächst in Kompositionen auf der Basis von Quadraten.


Obwohl er sich als Atheist einordnete, lebte ihn ihm die Vorstellung eines metaphysischen Urwesen, das einst in jener metaphysischen Welt die ersten rationalen Urformen geschaffen habe. Daher nannte sich Gerald Maria Stecker einen Gottsucher. Er versuchte, in die Urbegriffe Gottes einzudringen, und stieß dabei ab 1978 auf zwei Urformen, den Bogen und den Winkel, welche für ihn das Weibliche und das Männliche repräsentierten. In der metaphysischen Vorstellungswelt des Künstlers schafft demnach ein Urwesen das Urweibliche und das Urmännliche, indem die Ratio sich dem Pathos gegenüberstellt. Dabei bedeckt sich zunächst die gesamte Empfindungswelt mit einem weißen Schleier. Doch der Untergrund schimmert durch die weisse Bedeckung hindurch. Um das darzustellen, bediente sich Gerald-Maria Stecker aufwendiger Lasurtechniken. An gewissen Stellen kann man durch den weissen Schleier hindurchsehen auf eine dahinterliegende Welt. 


Im weiteren Verlauf des schöpferischen Prozesses beginnt die weisse Welt der Ratio allerlei Formen zu bilden, bis sich letztendlich die Winkel und Bögen heraus kristallisieren. Als dieser Punkt für ihn erreicht war, konnte sich der Künstler dann wieder mit einem Thema beschäftigen, das sein Werk von Anfang an dominiert hat: die Zusammenhänge zwischen den Lebewesen, und insbesondere, das Wechselspiel zwischen Männlichem (Winkel) und Weiblichem (Bogen). Dieses Thema erforschte er jetzt auf einer rein abstrakten Ebene.

G.-M. Stecker, Acryl auf Leinwand, 163cm x 160cm, 1981

Viele Künstler hätten sich an diesem Punkt damit begnügt, für den Rest ihres Lebens diese Thema in endlosen Varianten auszuführen. Immerhin hatte er bereits erreicht, was das Ziel eines jeden Künstlers ist: sowohl sein Stil also auch sein Thema waren neu und einzigartig in der Kunstgeschichte. Es war bereits das zweite Mal in seinem Leben, dass er an einem solchen Punkt angelangt war. Bereits die Phase 4, mit ihren Kopfmännchen, war stilistisch eine echte Neuheit gewesen. Es entsprach aber nicht dem stürmischen Charakter eines Gerald-Maria Stecker, am gleichen Punkt zu verharren! Deshalb suchte er wiedermal nach einer ganz neuen Ausdrucksform. In seinem Privatleben war dieser Zeitpunkt zeitgleich mit seinem Umzug von Deutschland nach Italien, in die Toskana. 


Es gab nun zwei Wege, die er nehmen konnte. Der eine wäre die Weiterentwicklung der geometrischen Formenwelt gewesen. Er hätte, nach Winkel und Bögen auch andere geometrische Formen malerisch erforschen können. Es sind dazu gewisse Ansätze in seinen Bilder zu sehen, aber letztendlich war das nicht der Weg, den er wählte. Als großer Verehrer Van Goghs, wagte er den Weg in das reine Pathos, hinein in die abstrakte Welt der Formen und Farben. Damit verließ er endgültig den sicheren Boden des rationalen Denkens. Was blieb, war nur noch er selbst als Mensch, gegenüber einer unendlichen Welt, die nur gefühlsmäßig erfasst werden konnte.


Phase 6 : Abstrakter Expressionismus (1983-1990)


In der ersten Zeit (bis 1986) dieser Phase (6), die man in gewisser Hinsicht bereits dem Abstrakten Expressionismus zuordnen kann, erscheinen noch manchmal die Winkel und Bögen, allerdings nicht mehr streng geometrisch und auch nicht als getrennte Gegenstände, sondern in einer einzigen Form vereint. Er selbst sprach von einer "Auflösung der geometrischen Elemente.

G.-M. Stecker, Acryl auf Leinwand, 150cm x 150cm, 1983

Obwohl das expressionistische Element dominant ist, gibt es in dieser Phase, und auch später, immer wieder Bilder, in denen der Künstler sich in impressionistischer Manier ausdrückt. Es ist ein Wechselspiel zu beobachten, zwischen dem rein passiven Erleiden von Eindrücken, und der subjektiven Reaktion auf diese Eindrücke. Diese Reaktion geht aber nie weiter als bis zu den besagten Formen, die aus einer Verschmelzung von Winkeln und Bögen entstehen. In dem Wechselspiel zwischen dem Subjekt des Malers und der Farben-und Formenwelt hält er sich weithin mit seiner begriffsbildenden Kraft zurück. Es geht ihm in erster Linie um die Erfahrung einer objektiven Welt, eben jener metaphysischen Welt des Pathos, die er als Urgrund aller Existenz erkannt hatte. Ab 1987 ging es ihm immer mehr um die Aufhebung jeglicher gegenständlichen Interpretationsmöglichkeit. Er suchte nach dem "Abstrakten an sich" und er sprach von "Bildern vor den Bildern".

G.-M. Stecker, Acryl auf Leinwand, 180cm x 150cm


Phase 7 :  Abstrakter Realismus (1991-2018)


Nachdem der Künstler nach ca 7 Jahren Aufenthalt in Italien nach Deutschland zurückkehrte, änderte er seinen Malstil ein weiteres Mal, und es begann damit die letzte Phase (7) seines künstlerischen Schaffens. Auch in dieser Phase begrenzte sich Gerald Maria Stecker keineswegs auf nur eine Ausdrucksform, doch kann man trotzdem eine gewisse seelische Grundeinstellung erkennen, die in allen Bildern vorhanden ist. Obwohl seine Werke weiterhin dem abstrakten Expressionismus zugeordnet werden können, wie er in der Kunstgeschichte bereits durch Künstler wie Jackson Pollock bekannt ist, entwickelte er jetzt erneut, zum dritten Mal in seinem Leben, einen ganz persönlichen Stil. Einen bereits bestehenden Namen für diesen Stil gibt es noch nicht, wir müssen also erst versuchen, uns einem solchen Namen anzunähern. Es ging ihm darum, den Betrachter in einen Zustand der "reinen Sehens" zu bringen.

G.-M. Stecker, Acryl auf Leinwand, 200cm x 200cm, 1994

Was als erstes auffällt, ist ein freierer Umgang mit der Begriffsbildung. Während er früher die Begriffsbildung streng mit dem Verstandesdenken identifiziert hatte, wodurch auch das geometrisierende Element in seine Malerei eindrang, wurde ihm jetzt zusehends bewusst, dass da ein tieferer Zusammenhang zwischen Wahrnehmung und Begriff vorhanden sein müsse. Die strenge Aufspaltung in Pathos und Ratio erwies sich ihm als intellektueller Irrtum. Dadurch bemerkte er, dass es da eine ursprüngliche Einheit zwischen Wahrnehmung und Begriff geben müsse. Was er früher als rein passiv zu erleidenden Weltengrund betrachtet hatte, schien bereits jene Formen zu enthalten, die er bisher für reine Verstandeskonstruktionen gehalten hatte. Es wurde ihm bewusst, dass der menschliche Verstand nicht etwa willkürlich intellektuelle Formen zu einer irrationalen Urwelt hinzuschafft, sondern dass es eine solche irrationale Urwelt überhaupt so nicht gibt. Er entdeckte, dass diese objektive Urwelt bereits fertige, geistige Urformen in sich trägt, und die Begriffsbildung des Subjektes zunächst nur darin bestehen kann, sich dieser Formen bewusst zu werden. Bildlich drückt sich das so aus, dass gewisse Bereiche aus Farben und Formen von dünnen Linien eingrenzt werden. Er selbst nannte es "Isolation der Körper". Die Form, welche durch die dünne Linie entsteht, ist aber bereits weitgehende durch die Farbflächen und -strukturen, die sie umgrenzt, vorgegeben. Trotzdem besteht durchaus immer eine gewisse Interpretationsfreiheit in Bezug auf das Wahrgenommene. Die konkrete Begriffsbildung ist nicht schon im voraus determiniert. Obwohl also die zu erkennende Form bereits vorhanden ist, hat der eingrenzende Begriff stets eine gewisse subjektive Freiheit. Er kann darum ebenso Formen schaffen, die noch gar nicht vorgeben sind, indem er Bereiche umgrenzt, in denen keine Wahrnehmung vorhanden ist. Man sieht das in den von feinen Linien umgrenzten leeren Feldern. Weiterhin enthält die Fähigkeit zur Begriffsbildung die Möglichkeit zur Erschaffung neuer Strukturen, die noch nicht durch die Wahrnehmung vorgegeben sind. Auch hier ging es dem Künstler erneut um eines der Grundthemen seines Lebens: Wie kann man Verbindungen zwischen den Menschen erzeugen? Gestalterisch äußerte sich das darin, dass er die isolierten Formen in Verbindungen zueinander stellte - was er selbst "kontrollierte Begegnung" nannte. Ab 1997 tauchten immer mehr gewisse Säulenformen in seinen Bilder auf. Er selbst sah darin ein "Verbindung zwischen Klassik und Moderne".

G.-M. Stecker, Acryl auf Leinwand, 250cm x 200cm

Was der Künstler hier im abstrakten Bereich neu entdeckte, entspricht durchaus den geisteswissenschaftlichen Tatsachen in unserem täglichen Erleben der menschlichen Wirklichkeit. Man kann dies leichter verstehen, wenn man einen vom Menschen geschaffenen Gegenstand betrachtet, wie zum Beispiel ein Fenster. Es kann ein wirkliches Fenster nur als Einheit von Begriff und Wahrnehmung geben. Allerdings muss man genau beobachten, in welcher Reihenfolge diese Einheit entsteht. Man muss unterscheiden zwischen den Schöpfern des Fensters und dem Hausbesitzer, der das Fenster zum ersten mal sieht, wenn es eingebaut ist. Die Schöpfer des Fensters, also der Schreiner, der Glaser und der Maurer, können das Fenster unmöglich gebaut und installiert haben, ohne den Begriff des Fensters zu kennen und sich dieses Begriff voll bewusst zu sein. Es ist ganz undenkbar, dass sich ein Fenster von selbst zusammengesetzt und durch reinen Zufall in eine Wand eingefügt habe. Alle beteiligten Handwerker kannten die Funktion und den Sinn des Fensters. Der Begriff des Fensters existierte für sie also bereits als Gedanke, bevor sie das Fenster zu bauen begannen. Aufgrund dieses Begriffes, aufgrund der detaillierten Idee des Fenster, begannen sie erst, es zu erschaffen. Jeder der Beteiligten wusste, was er zu tun hatte, weil er den Begriff des Fensters schon als Gedanke besaß. Extrem stark vereinfacht sieht dieser Begriff etwa so aus: “wir schneiden dieses Holz so und so zu, wir fügen es so und so zusammen, damit man das Fenster auf und zu machen kann, wir fügen die Glasscheiben hinzu, damit sie gegen Wind und Regen schützen, aber man trotzdem durchschauen kann, dann bauen wir das Fenster in einer gewissen Position in die Wand ein, die uns vom Architekten vorgegeben wird, weil jener weiss, "wo das Fenster am besten installiert werden muss”. 



Wenn nun das Fenster endlich fertiggestellt und korrekt eingebaut ist, dann besteht für die Handwerker im besten Falle eine absolute Einheit zwischen Wahrnehmung und Begriff: “das Fenster ist so geworden, wie wir es gewollt haben”. Wenn jetzt aber der Hausbesitzer zum ersten Mal kommt, dann hat er ja zunächst nur die Wahrnehmung des Fensters. Die einzelnen Begriffe fügen sich ihm erst später hinzu. Erst wenn er sich das Fenster ganz genau angeschaut hat, dann hat er sich die meisten Begriffe, welche die Handwerker beim Bauen gehabt hatten, hinzu gebildet. Nicht etwa alle Begriffe, sonst hätte er das Fenster ja auch selbst bauen können. Aber er versteht z.B: “das Fenster ist aus gutem Holz, es schliesst gut, die Scheiben sind gut isoliert, man hat eine gute Aussicht, und es ist in der richtigen Höhe”. Um sich diese verschiedenen Begriffe zu bilden, benötigt er ein wenig Zeit. Die Begriffe steigen nacheinander in ihm selbst auf, während er das Fenster untersucht. Sie sind also noch nicht zusammen mit der Wahrnehmung gegeben! Sie fügen sich erst hinterher hinzu, aus dem inneren der Seele des Betrachter aufsteigend. Bedeutet das aber nun, das der Hausbesitzer sich diese Begriffe selbst erschafft? Das täte er nur, falls er sich andere Begriffe bildete, als es die Handwerker gewesen waren. Er könnte zum Beispiel denken: “das Fenster hätte etwas niedriger sein können!” Allgemeinen kann man aber sagen, dass die meisten Begriffe, die er auffindet, bereits alle im Fenster selbst enthalten gewesen waren. Nur ergibt sich ihm eben die volle Wirklichkeit des Fensters erst durch die Einheit von Wahrnehmung und Begriff, was nicht anderes heisst, als: er muss sich das Fenster anschauen, es betasten und darüber nachdenken! Wäre er nicht dazu in der Lage, sich nachdenkend die richtigen Begriffe zu bilden, dann würde das Fenster für ihn zu keiner vollen Wirklichkeit werden. Ein kleines Kind, das sich noch nicht alle Begriffe eines Fensters bilden kann, kann darum z.B. aus einem Fenster fallen, weil es sich den Begriff “wenn ich mich zu sehr aus einem offenen Fenster lehne, kann ich herunterfallen” noch nicht heran gebildet hat. Gerade dieser Begriff war vor allem dem Architekten sicherlich sehr gut bekannt, weshalb er es in einer gewissen Höhe positionierte, doch Kinder können sich bekanntlich auf Stühle stellen, welche die Höhenverhältnisse ändern. Ohne die nötigen Begriffe bleibt unser Wahrnehmungsinhalt demnach ein ordnungslosen Zusammen von Sinneseindrücken. Erst durch das denkende Betrachten der Welt ergibt sich die volle menschliche Wirklichkeit.

G.-M. Stecker, Acryl auf Leinwand, 280cm x 200cm


Was entsteht also im abstrakten Bereich durch das Zusammenspiel von Begriff und Wahrnehmung? Es entsteht eine abstrakte Wirklichkeit. Was wir demnach auf den Bildern Gerald-Maria Steckers in seiner letzten Schaffensphase sehen, sind abstrakte Wirklichkeiten, die aus der persönlichen Vorstellungswelt des Künstlers stammen. Es hätte keinen Sinn, diesen Wirklichkeiten Begriffe aus der gegenständlichen Welt hinzufügen zu wollen, weil es vom Künstler vollbewusst beabsichtigt war, solches nicht zu ermöglichen. Er wollte nicht, dass wir in diesen Farben und Formen Gegenstände unseres alltäglichen Lebens wieder erkennen, sondern er wollte uns dazu anleiten, rein geistige Wirklichkeiten als solche akzeptieren zu lernen. Will man über diese Wirklichkeiten trotzdem nachdenken, dann kann man es nur so tun, wie es hier geschehen ist. Würde man doch nach Übergängen zur gegenständlichen Welt zu suchen wollen, dann könnte man das vielleicht anhand der "Negativen Formen" tun, welche aber 1995 in seinen Bilder bemerkbar werden. Laut jener Menschen, die zu solcher Erkenntnis fähig sind, erscheinen  physische Gegenstände nämlich - von geistigen Welt aus gesehen - wie Hohlräume!

G.-M. Stecker, Acryl auf Leinwand, 250cm x 200cm, 2000

Wir sehen uns hiermit vor eine Phantasiewelt gestellt, die zwar einem einzelnen Menschen entspringt, doch dieser Einzelmensch war schließlich keine Einzelschöpfung, sondern er gehört der gesamten Menschheit an, und, als Kind unserer Zeit, drückte er aus, was in vielen seiner Mitmenschen ebenso lebt. Aufgrund der Entwicklung hin zum Individualismus, ist ein Hauptanliegen eines jeden modernen Künstlers, das Verhältnis des Einzelmenschen zum Zeitgeist auszudrücken, damit seine Mitmenschen durch die Darstellung einer allgemein gültigen Situation dadurch ihre Einsamkeit überwinden können.


Was wir jetzt dem Maler Gerald-Maria Stecker noch schuldig sind, ist ein neuer Name für die letzte Phase seines Schaffens. Er selbst begnügte sich weiterhin mit dem Begriff “Abstrakte Malerei”. Doch abstrakt bedeutet ursprünglich: abgezogen, herausgezogen, und zwar von der gegenständlichen Welt abgezogen. Etwas, das man der Realität durch Abstraktion abgezogen hat. Das mag auch bei Gerald Maria Stecker durchaus so der Fall gewesen sein. Wie wir nachvollziehen konnten, hat er er seine Formen und Farben Schritt für Schritt aus der menschlichen Welt abstrahiert. Doch was er in seiner letzten Schaffensphase tat, ist mehr als ein solcher Abstraktionsprozess. Er beginnt hier, innerhalb dieser abstrakten Welt neue Gegenstände, eine gesamte neue Realität zu erschaffen, die allerdings rein geistig ist. Es scheint darum berechtigt, diese neue Art zu Malen Abstrakten Realismus zu nennen.  


Inwiefern ein jeder von uns diese abstrakte Realität für berechtigt hält, ist eine persönliche Entscheidung. Auf jeden Fall stellt uns der Künstler hier vor eine neue abstrakte Realität, die wir zuvor nie gesehen haben! Was wir auf seinen Bildern sehen, ist der Moment des Geborenwerdens neuartiger Gegenständen. Der Prozess des gegenständlichen Erkennens wird in seinen allerersten Anfängen dargestellt, nur dass eben die wahrgenommene Welt nicht naturgegeben ist, sondern vom Künstler frei erschaffen.


Um den gesamten künstlerischen Werdegang nochmal zusammen zu fassen: Gerald-Maria Stecker hat zuerst das farbliche und förmliche Element unserer Wahrnehmungen aus der natürlichen Wirklichkeit heraus abstrahiert, hat dann aus diesem Elemente eine neue abstrakte Farben- und Formenwelt entstehen lasse, und ist letztendlich an einem Punkt angekommen, wo sich ihm aus den abstrakten Farben und Formen neuartige Gegenstände bildeten. Eine neue Realität formte sich vor ihm auf seinen Leinwänden, weshalb der Begriff “Abstrakter Realismus” berechtig erscheint, auch wenn er sich zuerst paradox anhört.

G.-M. Stecker, Acryl auf Leinwand, 200cm x 200cm


Essay von Alexander Stecker, 20.04.2020

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